Februar 2023
Ian McEwan, Lektionen, Diogenes Verlag 2022
„My Life as a Man“ hieß ein Roman des amerikanischen Erfolgsautors Philip Roth. Der englische Schriftsteller Ian McEwan hat nun ein weiteres Mal den Versuch gemacht, ein „Leben als Mann“ zu schildern. Dazu braucht er 700 Seiten, die an keiner Stelle langweilig werden. Entscheidende Erfahrungen, die die Hauptfigur Roland Baines prägen, sind die Verführung durch seine Klavierlehrerin, als er noch minderjährig ist, und der Schock, dass seine Ehefrau ihn und den kleinen Sohn verlässt, um eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Das private Leben spielt sich vor dem Hintergrund weltpolitischer Ereignisse ab, die es beeinflussen: Kubakrise, Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, Mauerfall, die Ära Thatcher in England, danach der triumphale Sieg der Labour Party, geführt von Tony Blair. Roland Baines nutzt seine Talente als Pianist, Schriftsteller, möglicher Tennisprofi nicht. Er kommt zu der Einsicht, dass er sein Leben mit wechselnden Frauenbeziehungen und Jobs vertändelt hat. Und er fragt sich, wie die Aufbruchsstimmung von 1989 verloren gehen konnte, so dass es 2021 zum Sturm auf das US-Kapitol kam. McEwan erzählt sehr anschaulich, psychologisch feinfühlig und spannend vom Leben eines Mannes in der zweiten Hälfte des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts.
Dr. Günter Rinke
Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion : über ein eigentümliches Resonanzverhältnis : basierend auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022, München 2022
Es ist ein ungewöhnliches Buch, gerade einmal 75 Seiten stark und auch nicht allzu eng bedruckt. Und eigentlich ist es auch nur abgedruckter Vortrag, den einer der renommiertesten deutschen Soziologen Anfang 2022 vor Kirchenleuten gehalten hat. Dieser Vortrag aber ist so eingeschlagen, dass der eine oder die andere es nachlesen möchte. Hartmut Rosa sagt in diesem Vortrag: Demokratie braucht Religion, und zwar weil in Religion etwas verwurzelt ist, was die Gesellschaft dringend benötigt: die Fähigkeit zu hören, womöglich mit dem Herzen. Hartmut Rosa nennt es Resonanz. Sich anrufen und verwandeln zu lassen. Das scheint ihm nicht nur eine religiöse Idee zu sein. Das braucht auch Demokratie, dass wir uns von dem Anderen, den anderen, die anderes sagen, die anders sind, existenziell anders erreichen und berufen und anrufen lassen, das -so glaubt Rosa, ist der Kern unserer gesellschaftlichen Aufgabe.
(in der Stadtbibliothek vorhanden)
Burkhard Seidler
Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen, Köln 2022
Schon der Titel dieses Romans, für den die Autorin den Österreichischen Buchpreis erhielt, weckt Erwartungen auf eine etwas schräge Lektüre. Diese Erwartungen werden nicht enttäuscht. Die Ich-Erzählerin Charly Benz sieht sich in vieler Hinsicht als Verliererin im Leben: Aussehen, Männerbeziehungen, Karriere – alles misslungen und unbefriedigend. Nach mehreren abgebrochenen Studiengängen zieht sie aus der Schweiz nach Berlin, wo sie in einer Firma für vegane Müsliriegel für das Marketing zuständig ist. Da sie unter einer speziellen Phobie leidet – sie hat Angst, ihre Briefe zu öffnen –, wendet sie sich an Herrn Schabowski, einen gesetzten älteren Herrn, der sie von ihrem Problem befreien will. Mit ihm hat sie viele erheiternde, aber auch nachdenklich machende Erlebnisse. Er bringt sie dazu, an einer Familienaufstellung teilzunehmen, was zu einer Wende in ihrem Leben führt. Bald ist sie schwanger, und als Vater kommen gleich drei Männer in Frage. Am Ende befinden sich alle – Charly, ihre vier auch etwas verrückten Geschwister und Schabowski – in einem geerbten verlassenen Hotel in Bad Gastein zu einer Art Showdown. Das Buch überzeugt durch ein Zugleich von Tiefe und sprühender Unterhaltung. Es stellt die Frage nach dem ‚richtigen‘ Leben und beantwortet sie ohne jede Larmoyanz.
Dr. Günter Rinke